Psychiatr Prax 2006; 33(4): 157-159
DOI: 10.1055/s-2006-932578
Debatte
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Pro und Kontra: Zunahme von Zwangseinweisungen psychisch Kranker

For and Against: Increase of Compulsory Admissions of Psychiatric Patients
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Publication Date:
08 May 2006 (online)

Pro

Peter Müller

Um Missverständnissen vorzubeugen: Jeder Psychiater weiß, dass unfreiwillige Einweisungen (und Zurückhaltungen = Zwangsunterbringung, ZU) in manchen Fällen ohne jede Frage notwendig sind und immer waren - bei schwerer Erkrankung, akuter Gefahr und krankheitsbedingter Uneinsichtigkeit des Patienten. Mit aufmerksamer Sorge und sachgerechter Klärung müssen wir betrachten, dass ZU seit einigen Jahren in mehreren Ländern zunehmen - und offenbar besonders in Deutschland. Vorab zur Methodik: Die Raten (ZU pro Einwohner) sind für die Hauptfragestellung wesentlich, denn die Einwohnerzahl bleibt relativ konstant, und die Häufigkeit schwerer psychischer Erkrankungen ebenso. Quoten (ZU pro Behandlungsepisode) sagen wenig aus, wie jeder Kliniker weiß. Denn manchmal wird schon nach einem längeren Belastungsurlaub eine neue Behandlungsepisode gezählt.

Salize u. Dressing [1] [2] haben in ihrer europaweiten Studie für Deutschland zwischen 1992 und 2000 eine Zunahme der absoluten Zahlen für ZU von 94 000 auf 163 000 festgestellt. Die Zahlen basieren auf anhängigen Gerichtsverfahren. Deutschland und Österreich liegen nach europaweit steilstem Anstieg seit 1992 mit einer Rate von 175 pro 100 000 Einwohner inzwischen auf Platz 2 in Europa (hinter Finnland). Zusätzlich nachdenklich muss dabei machen, dass in Deutschland drei Faktoren vorliegen, die sonst ZU zahlenmäßig begrenzen: Gefährlichkeitskriterium; Anordnung durch außermedizinische Autorität; Rechtsbeistand ab Beginn des Verfahrens. Was wäre ohne „Bremsfaktoren”?

Spengler et al. [3] haben verschiedene Quellen vermischt und teilweise Gerichtsstatistiken der Länder mit nur eingeschränkter Aussage, teilweise eigene und nicht repräsentative Klinikstatistiken herangezogen. Sie fanden mit diesen Einschränkungen bundesweit ebenfalls einen Anstieg von ZU-Raten (aber wesentlich geringer als Salize und Dressing) und nach Justizstatistiken einen Anstieg von nur 38 % in zwölf Jahren.

Regionale, bundesweit also nicht repräsentative, dafür methodisch exaktere Erhebungen ergaben in Südniedersachsen eine Verdoppelung von PsychKG-Einweisungen in zehn Jahren [4], gewonnen aus einer Vollerhebung an den Ordnungsämtern, die alle Einweisungen registrieren. In dieser Region haben sich nach Sichtung der Akten an Amtsgerichten (also ohne Doppelerfassung bei Verfahrenswechsel) betreuungsrechtliche ZU in acht Jahren verdreifacht [5]. Betreuungsverfahren insgesamt (auch ohne ZU) steigen bundesweit kontinuierlich an. In Bremen haben sich ZU in den letzten zehn Jahren ebenfalls verdoppelt [6]. Alle Studien haben wegen des rasanten Anstiegs der Zahl stationärer Behandlungsepisoden natürlich konstante oder sinkende ZU-Quoten gefunden (z. B. [4]).

Die Aussage ist also ziemlich klar: ZU nehmen bei uns zu. Natürlich steckt der Teufel im Detail. Sicher werden auch heute mehr Maßnahmen rechtlich offen gelegt, die man früher auch vornahm, sodass die wahre Zunahme geringer ist. Klar ist, dass die Erhebungen noch sorgfältiger und vergleichbarer werden müssen [7]. Versuche des Herunterrechnens verhelfen aber ebenso wenig wie die Hinweise auf erhebliche regionale Unterschiede zu Antworten auf die Frage, warum der Hauptbefund so ist. Denn schwere psychiatrische Erkrankungen nehmen nicht zu, und die Arztdichte ist ja nicht gesunken.

Warum also mehr ZU? Darüber müssen wir Psychiater diskutieren. Also z. B. über:

Immer kürzere und symptomzentrierte stationäre Behandlungen ohne sorgfältige Einleitung der Nachbehandlung bringen wohl steigende Krankenhausstatistiken und -einnahmen (bei Fallpauschalen), helfen dem Kranken und dem Krankheitsverlauf aber langfristig nicht viel. Baldige Wiederaufnahmen folgen. Ein bis zwei kurze Besuche beim Psychiater pro Quartal helfen wenig. Wie ist Krankheitsverarbeitung bei Schizophrenen, kognitives Training, Förderung sozialer Kompetenz, Wiedergewinn von Selbstvertrauen, informierte Behandlungsmitbestimmung, Verbesserung der Compliance mit langfristiger medikamentöser Rezidivprophylaxe, Einbezug von Angehörigen, Antizipation und ambulantes Krisenmanagement bei präpsychotischer Dekompensation usw. möglich? Das kann man wohl in Büchern nachlesen, in der psychiatrischen Praxis geht das nicht. Da wird stationär eingewiesen, wenn die Minimalversorgung nicht reicht. Eingehende und zeitaufwendige ambulante Kriseninterventionen z. B. bei Psychosen oder Suizidalität gibt es nur ausnahmsweise, Psychiater machen in der Regel keine Notfall-Hausbesuche, Akuttermine sind selten zu bekommen. Damit könnte man ZU reduzieren, Behandlungskonstanz erhalten und erhebliche Kosten sparen. Die ZU ist bei verpassten Behandlungschancen fast zwangsläufig notwendig. Eine ZU geht zudem viel einfacher und schneller. Und wir Psychiater wissen, dass der Begriff einer akuten Gefahr sehr auslegungsfähig ist. Die gesetzlich vorgeschriebene Prüfung, ob die Gefahr auch auf andere (ambulante) Weise abwendbar ist, findet dann fast nie mehr statt bzw. kommt zu spät. Eventuell werden die gegen das klare Enquetevotum erhaltenen und erneuerten psychiatrischen Großkrankenhäuser (mit traditionell höheren ZU) von der Bevölkerung immer weniger akzeptiert, sodass wir Patienten dort hineinzwingen müssen. Der Gesetzgeber hat die ZU erleichtert 8, eine frühere passagere Erschwerung des Verfahrens brachte reduzierte ZU-Zahlen 9. Seit ca. Mitte der 90er-Jahre nimmt der allgemeine gesellschaftliche Trend zu Kontrolle und mehr Freiheitsentzug zu. Auf anderem Gebiet: drastischer Anstieg im Maßregelvollzug, übervolle Gefängnisse, Ausweitung von Sicherungsverwahrung - bei schon vorher kontinuierlich sinkender (!) Zahl schwerer Straftaten. Wie weit sind wir Psychiater diesem gesellschaftlichen Trend unmerklich aber immer etwas mehr verbunden und agieren hier mit? Wie können wir Informationen über psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit und bei Politikern so gut vermitteln, dass Zwang seltener statt häufiger notwendig wird?

Prof. Dr. med. Peter Müller
Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen
E-mail: pmuelle1@gwdg.de

Literatur

  • 1 Salize H J, Dressing H. Epidemiology of involuntary placement of metally ill in people across the European Union.  Brit J Psychiatry. 2004;  184 163-168
  • 2 Dreßing H, Salize H J. Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung psychisch Kranker in den Mitgliedsländern der Europäischen Union.  Psychiat Prax. 2004;  31 34-39
  • 3 Spengler A, Dreßing H, Koller M, Salize H J. Zwangseinweisungen - bundesweite Basisdaten und Trends.  Nervenarzt. 2005;  76 363-370
  • 4 Darsow-Schütte K l, Müller P. Zahl der Einweisungen nach PsychKG in zehn Jahren verdoppelt.  Psychiat Prax. 2001;  28 226-229
  • 5 Müller P, Josipoviv T. Unfreiwillige Einweisung nach Betreuungsrecht in acht Jahren verdreifacht.  Psychiat Prax. 2003;  30 108-113
  • 6 Rehbein F O, Krischke N R. Entscheidungsprozesse bei Zwangseinweisungen. Vortrag DGPPN Berlin. 2004
  • 7 Kallert T W. Nehmen Zwangseinweisungen in Deutschland wirklich zu?.  Die Psychiatrie. 2005;  2 231-243
  • 8 Müller P. Neue PsychKGs: Liberale Absicht und reale Nachteile durch weitere eingeschränkte Rechte der betroffenen Patienten.  Recht und Psychiatrie. 1999;  17 107-111
  • 9 Müller P, Völker B. Werden Zwangseinweisungen durch Erschwerung des Verfahrens seltener?.  Öffentl Gesundheitswe. 1988;  50 27-30
  • 10 Dreßing H, Salize H J. Compulsory admission of mentally ill patients in European Union Member States.  Soc Psychiatry Psychiatr Epidemiol. 2004;  39 797-803
  • 11 Wall S, Hotopf M, Wessely S, Churchill R. Trends in the use of the Mental Health Act: England 1984 - 96.  BMJ. 1999;  318 1520-1521
  • 12 Müller P. Zwangseinweisungen nehmen zu.  Ärzteblatt. 2004;  42 2369-2371
  • 13 Dreßing H, Salize H J. Nehmen Zwangsunterbringungen in den Ländern der Europäischen Union zu?.  Gesundheitswesen. 2004;  66 240-245
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